Weidenfeld, Werner / Wessels,Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2008. Baden-Baden: Nomos.
Das Schiff Europa hat in den letzten 12 Monaten stark geschlingert und gekrängt. Der Kurs ist unklar, die See wird rauer. „Europa zeigt sich strategisch verwirrt“ (13) schreibt Werner Weidenfeld zu Beginn seiner „Bilanz der Europäischen Integration“. Kritisch notiert er: „Die übliche tagespolitische Hektik verbindet sich mit einer mittelfristigen Ratlosigkeit“ (13).
Immerhin ist es jetzt gelungen, den Vertrag von Lissabon unter Dach und Fach zu bringen. Ob dies die mittelfristige Ratlosigkeit beseitigt, darf derzeit bezweifelt werden.
„Mit dem Vertrag von Lissabon sollte eine dringend notwendige Justierung der strategischen Ausrichtung Europas vorgenommen werden“, bemerken die Herausgeber Weidenfeld und Wessels. Reformen sollen Europa demokratischer, transparenter und schlagkräftiger machen.
„Zu den zentralen Reformen gehören die Einführung der doppelten Mehrheit, die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, die klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten, die Stärkung er Rechte des Europäischen Parlaments, die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte, die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens sowie die Anpassung der Instrumente der differenzierten Integration. Zudem enthält der Vertrag Mechanismen, die ein Weiterentwickeln der EU auch ohne Kraft raubende Vertragsverhandlungen ermöglichen.“ (9)
Aber die massiven Ratifizierungsprobleme haben Spuren hinterlassen. Weidenfeld und Wessels sehen dies nicht nur negativ: „Die Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung des Vertrags von Lissabon wie auch bei dessen Ratifikation zeigen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht mehr alle zum selben Zeitpunkt in allen Politikfeldern mit derselben Intensität vorgehen möchten oder können“. (9) Für die Union ist dies eine echte Herausforderung. ob daraus wirklich eine strategische Chance werden kann, weiß derzeit niemand.
Ratlosigkeit ob der Zukunft zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge des traditionsreichen Jahrbuchs der Europäischen Integration. Dabei ist etwa das gescheiterte Referendum in Irland nur ein Symptom für die Krise der Union. Vor „Lethargie und Handlungsstarre“ (52) warnen Giering / Neuhann mit Blick auf den Europäischen Rat. „Frust innerhalb der Parlamentsmehrheit“ (60) sieht Maurer bei den EP-Abgeordneten, die kämpferisch ins Jahr 2008 gestartet seien. „Gelassene Nervosität“ (69) konstatiert Diedrichs bei der Kommission. Unklar ist die Rolle der Agenturen, deren Zahl erheblich ausgeweitet wurde und denen es nach Ansicht Traguths an einem umfassenden Konzept fehlt (109). Auch die Außenpolitik der Europäischen Union und die Sicherheit- und Verteidigungspolitik sind von Unsicherheit gekennzeichnet (254). Hinzu kommen Schwierigkeiten mit Neumitgliedern wie Bulgarien sowie die unklare Perspektive der Beitrittskandidaten. Trotz dieser Schwierigkeiten lässt das umfangreiche Jahrbuch auch zahlreiche positive Seiten der Europäischen Integration erkennen. Funktionierende Institutionen wie der Gerichtshof, der Rechnungshof und der Ausschuss der Regionen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie die Europäischen Zentralbank haben gezeigt, „dass der europäische Zusammenhalt entgegen vielfach geäußerten Befürchtungen nicht ausgedünnt wird und die EU-Zusammenarbeit auch ohne ein planmäßiges Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in zentralen Bereichen voranschreitet“ (9). Vermutlich hätte Europa die Finanzkrise ohne diese funktionierenden Institutionen nicht in der bisherigen Form bewältigt. Falls es in Zukunft unterschiedliche Geschwindigkeiten der europäischen Politiken geben wird, wird dies ein Experiment mit offenem Ausgang.