„Das Zeitalter des Zorns“ von Pankaj Mishra ist ein unkonventionelles Buch. Es erklärt die Hass-Ausbrüche der Gegenwart mit der Ideengeschichte der Vergangenheit. Er zieht Parallelen vom mystizistischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu den neuen ressentimentgeladenen Regimes des 21. Jahrhunderts und liegt damit gar nicht einmal so falsch.
Dass religiöser Fundamentalismus „im Grunde Ausdruck für die Schwächung religiöser Überzeugungen ist“, lässt sich nicht abstreiten.
Deutsche Sozialwissenschaftler haben dem Inder Pankaj Mishra vorgeworfen, dass er seine Thesen nicht empirisch untermauere. Aber muss er das?
Er argumentiert überzeugend.
Seine These: heute wie damals treiben Technologie und die Gier nach Reichtum und Individualismus Millionen Menschen ziellos in eine demoralisierte Welt. Es sind Entwurzelte, die von der Moderne nicht profitieren und deshalb mit Hass auf imaginäre Feinde und Zorn und Wut und Gewalt reagieren.
Es sind aber nicht nur die Abgehängten, es sind auch „kleinbürgerliche Demagogen“ (S. 235), die mit ihrer Sehnsucht nach einer heilen Welt, die es nie gab, Profit aus dem Hass auf die Moderne und die individualistischen Eliten ziehen wollen.
Man sieht die ressimentgetränkten Gaulands und Weidels vor sich, die Hass säen mit ihren Reden, man denkt an Marine le Pen oder die Prominenten der Lega Nord und sieht überall die gleichen Muster.
„In Zeiten spiritueller und psychischer Schwäche haben Anarchisten, Terroristen und Despoten stets leichtes Spiel“, erläutert Mishra schlüssig (S. 63).
Mishraj beschreibt das Freiheitsparadoxon, dass man einerseits individuelle Freiheit erlebt und dass andererseits die Sehnsucht nach einem „Herrn“ unstillbar scheint, ein Paradoxon, „das vom nachrevolutionären Frankreich bis hin zum IS immer wieder aufscheint: dass nämlich gerade die Erahrung individueller Freiheit eine verzweifelte Sehnsucht nach einem ‚Herrn‘ wecken kann, wie Tocqueville dies ausdrückte, aber ebenso auch etwas, das der französische Schriftsteller, der sich verständnisvoll über die französischen Imperialisten in Algerien äußerte, als ‚unstillbares Bedürfnis nach Handeln, heftigen Emotionen, Wirren und GefahrenÄ bezeichnet.“ (63)
Wir sollten nicht vergessen, dass mit ähnlichem Unterbau der Erste Weltkrieg begann. Expressionisten wollten „die Tat“. Doch der folgende Krieg sorgte rasch für Entsetzen und Entzauberung.
Und nun – 100 Jahre später – fängt dies alles schon wieder an.
„Die Rattenfänger des IS haben besonders gut verstanden, dass gedemütigt und verletzte Männer, ob nun in Pariser Banlieues oder in asiatischen und afrikanischen Slums, sich leicht in gehorsame und furchlose Kämpfer verwandeln lassen, wenn man ihnen ein hehres Ziel gibt, für das sie kämpfen können, das sich, wie dürftig auch immer, mit dem vergangenen glanz des Islam verknüpfen lässt und das darauf ausgerichtet ist, eine von seelentötender Mittelmäßigkeit, Feigheit, Opportunismus und unmoralischem Geschacher geprägte Welt auszrotten.“ (63-64)
Aber das sind dann eben doch nur Vorruteile und Ressentiments, die eigentlich nicht zu halten sind und denen man mit einer anderen Politik und einer anderen Wertschätzung den Stachel ziehen könnte.
Aber dieses Fazit zieht der Inder Mishra nicht, im Gegenteil. Sein Befund ist für uns Menschen des Westens alarmierend und trist:
„Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst; seine Maginot-Linie läuft quer durch unser Herz und unsere Seele.“ Denn „unsere Kultur“ – Mishra zählt sich offensichtlich dazu – fördere „unstillbare Eitelkeit und platten Narzissmus.“
Im „neuen Schwarm der Online-Communities“ (369) mit Facebook-Shares und Twitterstürmen „lebten die Menschen weder für sich noch für ihr Land, sondern für die Befriedigung ihrer Eitelkeit und Eigenliebe: das Verlangen und Bedürfnis, die Anerkennung anderer zu finden und von ihnen ebenso geschätzt zu werden wie man sich selbst schätzt.“
Kein Ausweg? Nirgends?
Vielleicht doch.
Wenn wir nicht an die „Früchte des Zorns“ glauben, schon gar nicht an die Brandstifter der Volks-Erwütigung, sondern ganz altmodisch an gute Mächte, an christliche Werte, an Humanismus und die unbändige Kraft von Frieden und Freiheit.
Wir müssen diese unbändige Kraft aber schon selbst weitergeben. Aber das führt nun weit über Pankaj Mishras Bestseller hinaus ins Individuelle.
Armin König
Pankaj Mishra: „Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart“, aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 416 Seiten, ISBN: 9783103972658