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Archive for the ‘Europa’ Category

Nein, der Westen ist nicht tot – Ein mutiges Plädoyer

In Deutschland, Europa, Politikwissenschaft, Sachbuch, USA on Dezember 8, 2019 at 10:55 pm

Nein, der Westen ist nicht tot – sagt Thomas Kleine-Brockhoff und schwimmt damit gegen den Strom der Skeptiker und West-Kultur-Pessimisten. Er hat eine Botschaft: „Die Welt braucht den Westen“, schreibt der erfahrene Außenpolitik-Analytiker, der Vizepräsident und Berliner Büroleiter des German Marshall Fund of the United States. Souverän beschreibt er, warum nicht die „dunklen Kräfte“ die besten Chancen haben, sich durchzusetzen, sondern die Protagonisten eines neuen robusten demokratischen Liberalismus.
Ja, auch Kleine-Brockhoff, der lange als ZEIT-Korrespondent gearbeitet hat und der Chef des Planungsstabs von Bundespräsident JoachimGauck war, erkennt die wachsende Macht der Nationalisten und die aktuelle Krise des Westens. Er verkennt nicht „die Popularität des starken Mannes als Staatenlenker“ (41). Und auf der großen Weltbühne haben sich auch noch „der Protektionismus, der Majoritarismus und der Opferkult des Rechtspopulismus, das Denken in Einflusszonen, der historische und territoriale Revisionismus“ (41) breitgemacht.
Personalisiert wird die Krise des Westens durch Donald Trump und einen irrationalen Trumpismus. Aber Kleine-Brockhoff hält dagegen: „Denn es ist unabsehbar, sogar unwahrscheinlich, dass Donald Trumps Amtszeit in einen dauerhaften Trumpismus münden wird“ (16). Der Westen kann nicht so bleiben, wie er ist, auch das ist eine wichtige Erkenntnis des klugen Analytikers. Er hat auch alles dafür getan, um wegen seiner Hybris diskreditiert zu werden. Aber das ist kein Grund, nun all das aufzugeben, was den Westen seit der Aufklärung bis hin zum Liberalismus und der Demokratisierung der Welt stark gemacht hat. „Die Vereinigten Staaten als westliche Vormacht quasi aufzugeben…, wäre fahrlässig“, schreibt Kleine Brockhoff. Die Europäer sollten die Brücken nach Amerika nicht einreißen. In der Post-Trump-Ära würden sie noch gebraucht. Und es gibt ja noch immer genügend überzeugte Atlantiker, die dafür einstehen, was KLeine-Brockhoff empfihelt.
In zehn Kapiteln entwirft er einen „Neustart für eine liberale Ordnung“, und es klingt überzeugend. Nicht der missionarisch-offensive und zum Teil überdehnte westliche Demokratie-Export der letzten Jahrzehnte ist gefragt, sondern ein zurückhaltender, aber glaubwürdiger robuster Liberalismus, der für Aufklärung, Regeln, eine freiheitliche Weltordnung steht. Kleine-Brockhoff kritisiert in diesem Zusammenhang auch die offene Migrationspolitik von Angela Merkel, deren Idealismus mit den machtpolitischen Realitäten nicht in Einklang zu bringen war. „Das Globale mit dem Nationalen versöhnen“ (110), Flüchtlingsschutz, von neuem Allianzen schmieden, um dem Neonationalismus Grenzen zu setzen, Regeln für militärische Interventionen, wenn sie aus humanitären Gründen wirklich unvermeidbar sind – all dies sind große Aufgaben für den Westen. Und sie sind auch eine Chance für eine Renaissance des Westens, der auf solidem liberalem demokratischem Fundament steht. Es gilt, die Attacken neuer Kulturreleativisten abzuwehren. Dabei muss der Westen Abschied von Illusionen nehmen und „den Realitäten einer Welt ins Auge schauen, die geprägt ist von Machtkonkurrenzen“. (26)
Das ist mutig, aber keineswegs weltfremd. Die Freunde der Freiheit und die Kräfte der Mitte sollten nicht in Selbstmitleid baden, sondern sich auf den Weg machen, um die liberale Demokratie gegen all die Egomanen, Nationalisten und Populisten zu verteidigen. Denn deren Scheuklappenpolitik ist zu begrenzt, um in einer komplexen Welt überzeugende Antworten für die Mernschen zu bieten.
Klar sind auch Kleine-Brockhoffs Antworten zu China: Man werde die aufstrebende Weltmacht China nicht „eindämmen“ können (166). Nichts zu tun und auf robuste Antworten zu verzichten, sei aber auch nicht der richtige Weg. „Am Ende sorgt nicht China im Westen für Wohlstand, sondern ein regelbasiertes System freien Handels, das alle Mitglieder für verbindlich halten.“ (166)
Die Positivliste des Westens ist beeindruckend: unveräusserliche Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung und repräsentative Demokratie gehören zum Markenkern.
Thomas Kleine-Brockhoff schafft das Kunststück, dem vorherrschenden Kulturpessimismus des Westens die Vision eines aufstrebenden robusten demokratischen Liberalismus entgegenzusetzen, der tatsächlich Chancen hat. Einfach wird das nicht. Im Gegenteil: Das ist ein mühsamer Prozess, der strategisches Geschick verlangt. Aber er lohnt sich. Ein bisschen Mut ist dabei schon notwendig.
Es stimmt doch: Die Welt braucht den Westen. Es wäre fahrlässig, ihn und seine liberalen Ideale aufzugeben.
Ob der Optimismus tatsächlich trägt, ist noch nicht ausgemacht. Dafür müssen die handelnden Politikerinnen und Politiker Europas selbst sorgen.

Dr. Armin König

Thomas Kleine-Brockhoff: Die Welt braucht den Westen. Neustart für eine liberale Ordnung. Edition Körber, Hamburg 2019. 208 S., EUR 18,00; Fr. 28.90HC_120x205_KleineBrockhoff_Westen_190328_final.indd

Was für ein ärgerliches, peinliches Buch: Emmanuel Todd betreibt in Traurige Moderne Geschichtsklitterung

In Europa, Geschichte on Oktober 10, 2019 at 9:35 pm

Was für ein peinliches, ärgerliches Buch! Mich wundert, dass es bei C.H. Beck erscheinen konnte. Emmanuel Todd, der französische Soziologe, legt eine krude, verschwörerische, europafeindliche Studie vor, in der er die letzten hundertausend Jahre Menschheitsgeschichte „von der Steinzeit bis zum Homo Americanus“ in ein seltsames Konstrukt der Familiestrukturen presst. Sie sollen „der unbewusste Motor der Geschichte“ sein.
Das ist kein „luzides Buch“, wie der Verlag schreibt, das ist auch nicht „überzeugend und immer anregend“, wie der Figaro meint. Das ist Humbug.
Da werden die Orbans und die Trumps und die Brexiteers gelobt, und die Deutschen als Träger einer wie auch immer gearteten Stammfamilie „mit Unterstützung eines Zombie-Katholizismus“ als faktische Beherrscher eines sich selbst überschätzenden Europas diskreditiert. Da werden kruden Theorien von einem „spezifischen Volk“ aufgetischt. Donald Trump wird als „Wille und Vorstellung“ des amerikanischen Volkes hochstilisiert.
Und schließlich versteigt sich Todd zu der klassischen Behauptung rechter Verschwörungstheoretiker, die Vernichtung der Juden sei nicht singulär: „Als Erstes sollte endlich die Ansicht verworfen werden, die Vernichtung von sechs Millionen Juden sei ein spezifisch deutsches Phänomen udn sonst nirgendwo in Europa vorstellbar“. Ian Kershaw, einer der besten Kenner des nationalsozialismus, wird der „Negation unbezweifelbarer empirischer Tatsachen“ beschuldigt. Für mich unfassbar ist die Behauptung: „Verweigert wird die Anerkennung der hohen, fast übermenschlichen militärischen Leistungsfähigkeit [Deutschlands] in zwei Weltkriegen.“
Dieses Buch ist Mist. Deterministischer Quark.
Feiner drückt es Marko Martin (Eliten-Bashing im elitären Duktus“) aus:
„Die permanenten Seitenhiebe auf „Academia“, eine angeblich herrschende Kaste arroganter Hochschul-Eliten, und der Beifall für Donald Trumps National-Protektionismus machen sein Buch, das bei weniger Seitenumfang und weniger Rechthaberei gewiss inspirierend hätte sein können, zusätzlich fragwürdig.
„Traurige Moderne“ ist eines jener traurigen Beispiele für ein verschwörungstheoretisches, in elitärem Duktus vorgetragenes Eliten-Bashing, das kokett nach beiden Seiten schielt: Nach rechtsaußen ebenso wie nach linksaußen.“

Dr. Armin König

Community and Autonomy

In Europa, Politikwissenschaft, Sachbuch on April 15, 2010 at 11:22 pm

Fritz W. Scharpf: Community and Autonomy – Institutions, Policies and Legitimacy in Multilevel Europe. Frankfurt a.M. / New York: Campus-Verlag.

Er ist der Experte für Multi-Level-Governance in Europa: Fritz W. Scharpf. Der Direktor emeritus des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG) hat auf dem Feld der Mehrebenen-Politik und der Politikverflechtung in Deutschland und Europa Maßstäbe gesetzt. Sein Aufsatz über die „Politikverflechtungsfalle“ aus dem Jahr 1988 ist vielfach zitiert worden. „The Joint-decision Trap: Lessons from German Federalism and European Integration“ steht am Anfang einer Aufsatzsammlung, die erstmals die wichtigsten Beiträge des vielfach ausgezeichneten Politikwissenschaftlers aus 25 Jahren zu Institutionen, Policies und Legitimität im europäischen Mehrebenensystem in einem Band versammelt. Der Beitrag über die Politikverflechtungsfalle ist noch immer aktuell. Geschrieben wurde er bereits 1983/84, publiziert 1988. Obwohl sich die Welt seit dieser Zeit fundamental verändert hat, ist ein Problem geblieben: Die Komplexität politischer Entscheidungen in einem föderalen System mit unterschiedlichen Abhängigkeiten, in dem Vetospieler Problemlösungen blockieren oder zumindest erschweren können. Scharpf beschreibt eine Joint-Decision-Trap (JDT), also eine Politikverflechtungsfalle, in der es Blockaden und suboptimale Policy-Outcomes gibt, die Effektivität nationaler und europäischer Politik behindern. Scharpf kommt aber auch zu dem Schluss, dass sich dies nicht generalisieren lässt. Er stellt fest, „that these conditions do not exist everywhere, and that even where they exist, they will not always generate policy blockades or compromises on the lowest common denominator“. Die Praxis der europäischen Politik bestätigt, dass es in Teilbereichen gut läuft, während in anderen Policy-Feldern meist Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden werden.

Der zweite Aufsatz (1994) war titelgebend: „Community and Autonomy“. Er ist ein wichtiger Beitrag im Werk von Scharpf. Es geht dabei um die Balance zwischen europäischen und nationalen Kompetenzen. Darin beschreibt er die Schwierigkeiten, in einem Multi-Level-Governance-System effektiv Politik zu machen. Das gilt auch für die durchaus mächtige EU-Kommission: „In spite of the Commission’s monopoly on policy initiatives and the return to qualified majority voting in the Council of Ministers, the important decisions of the Community continue to come out of multilateral negotiations between national governments. They are cumbersome and time-consuming, and they are easily blocked by conflicts of interest between member states. These conditions are hard to change“. Das ist bis heute so geblieben. Auf europäischem Parkett ist der Fortschritt eine Schnecke. Scharpf erklärt, warum sich angesichts unterschiedlicher Marktregulierungen Europa und die USA unterscheiden. Auch das europäische Sozialmodell spielt eine Rolle. Allerdings kommt Scharpf in seinem jüngsten Beitrag (2009) zu einem Ergebnis, der den Verfechtern einer Sozialen Marktwirtschaft nicht gefallen wird. Der Artikel steht unter dem Titel: „The Double Asymmetry of European Integration – Or: Why the EU Cannot Be a Social Market Economy“. In Zeiten der Globalisierung ist dies Realität geworden.

In insgesamt 13 Aufsätzen beschreibt Scharpf die institutionellen Probleme und Chancen der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf Autonomie, Legitimität, Markt und Wirtschaft,  institutionelle Bedingungen und die Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsetzung und der Politikgestaltung. Europäische Handlungsfähigkeit ist möglich trotz nationaler Autonomie – allerdings ist dies von Feld zu Feld unterschiedlich ausgeprägt.

Für Politikwissenschaftler, die sich mit Multi-Level-Governance und der Politikverflechtung zwischen nationaler und europäischer Ebene befassen, ist diese Aufsatzsammlung von Fritz W. Scharpf ein neues Standardwerk.

Europa strategisch verwirrt oder auf Zukunft programmiert?

In Europa, Politikwissenschaft on Oktober 31, 2009 at 11:27 pm

Weidenfeld, Werner / Wessels,Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2008. Baden-Baden: Nomos.

Das Schiff Europa hat in den letzten 12 Monaten stark geschlingert und gekrängt. Der Kurs ist unklar, die See wird rauer. „Europa zeigt sich strategisch verwirrt“ (13) schreibt Werner Weidenfeld zu Beginn seiner „Bilanz der Europäischen Integration“. Kritisch notiert er: „Die übliche tagespolitische Hektik verbindet sich mit einer mittelfristigen Ratlosigkeit“ (13).

Immerhin ist es jetzt gelungen, den Vertrag von Lissabon unter Dach und Fach zu bringen. Ob dies die mittelfristige Ratlosigkeit beseitigt, darf derzeit bezweifelt werden.

„Mit dem Vertrag von Lissabon sollte eine dringend notwendige Justierung der strategischen Ausrichtung Europas vorgenommen werden“, bemerken die Herausgeber Weidenfeld und Wessels. Reformen sollen Europa demokratischer, transparenter und schlagkräftiger machen.

„Zu den zentralen Reformen gehören die Einführung der doppelten Mehrheit, die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, die klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten, die Stärkung er Rechte des Europäischen Parlaments, die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte, die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens sowie die Anpassung der Instrumente der differenzierten Integration. Zudem enthält der Vertrag Mechanismen, die ein Weiterentwickeln der EU auch ohne Kraft raubende Vertragsverhandlungen ermöglichen.“ (9)

Aber die massiven Ratifizierungsprobleme haben Spuren hinterlassen. Weidenfeld und Wessels sehen dies nicht nur negativ: „Die Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung des Vertrags von Lissabon wie auch bei dessen Ratifikation zeigen, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht mehr alle zum selben Zeitpunkt in allen Politikfeldern mit derselben Intensität vorgehen möchten oder können“. (9) Für die Union ist dies eine echte Herausforderung. ob daraus wirklich eine strategische Chance werden kann, weiß derzeit niemand.

Ratlosigkeit ob der Zukunft zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge des traditionsreichen Jahrbuchs der Europäischen Integration. Dabei ist etwa das gescheiterte Referendum in Irland nur ein Symptom für die Krise der Union. Vor „Lethargie und Handlungsstarre“ (52) warnen Giering / Neuhann mit Blick auf den Europäischen Rat. „Frust innerhalb der Parlamentsmehrheit“ (60) sieht Maurer bei den EP-Abgeordneten, die kämpferisch ins Jahr 2008 gestartet seien. „Gelassene Nervosität“ (69) konstatiert Diedrichs bei der Kommission. Unklar ist die Rolle der Agenturen, deren Zahl erheblich ausgeweitet wurde und denen es nach Ansicht Traguths an einem umfassenden Konzept fehlt (109). Auch die Außenpolitik der Europäischen Union und die Sicherheit- und Verteidigungspolitik sind von Unsicherheit gekennzeichnet (254). Hinzu kommen Schwierigkeiten mit Neumitgliedern wie Bulgarien sowie die unklare Perspektive der Beitrittskandidaten. Trotz dieser Schwierigkeiten lässt das umfangreiche Jahrbuch auch zahlreiche positive Seiten der Europäischen Integration erkennen. Funktionierende Institutionen wie der Gerichtshof, der Rechnungshof und der Ausschuss der Regionen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie die Europäischen Zentralbank haben gezeigt, „dass der europäische Zusammenhalt entgegen vielfach geäußerten Befürchtungen nicht ausgedünnt wird und die EU-Zusammenarbeit auch ohne ein planmäßiges Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in zentralen Bereichen voranschreitet“ (9). Vermutlich hätte Europa die Finanzkrise ohne diese funktionierenden Institutionen nicht in der bisherigen Form bewältigt. Falls es in Zukunft unterschiedliche Geschwindigkeiten der europäischen Politiken geben wird, wird dies ein Experiment mit offenem Ausgang.

Armin König

Europa nicht ohne uns – Wie das Bürgerprojekt gelingen kann

In Europa, Politikwissenschaft on Mai 3, 2009 at 9:10 pm

Efler, Michael / Häfner, Gerald / Huber, Roman / Vogel, Percy et al. (2009): Europa: nicht ohne uns! : Abwege und Auswege der Demokratie in der Europäischen Union. Hamburg: VSA-Verlag. € 9,80

Die Demokratisierung der EU steht im Mittelpunkt des Buches von Michael Efler, Gerald Häfner, Roman Huber und Percy Vogel vom Verein „Mehr Demokratie e.V.“. Der Verein ist dafür bekannt, dass er sich für mehr Bürger-Partizipation, die Einführung des bundesweiten Volksentscheides in Deutschland, moderne Wahlverfahren und Informationsfreiheit einsetzt. Ziel ist eine lebendige Demokratie und eine politische Kultur, die Dialog und Beteiligung der Bürger fördert. Genau dies kann „Mehr Demokratie“ bei der EU nicht erkennen. So werde die Debatte über den Lissabon-Vertrag ohne die Bürgerinnen und Bürger geführt. Klarer Kommentar dazu: „Das kann nicht gut gehen. Vielmehr ist eben diese Abschottung der Debatte gegenüber den Menschen in Europa und die einseitige Kommunikation, die mit diesen über Fernseh- und Medienansprachen geführt wird, eine sichere Voraussetzung für ihr Scheitern“. (7)
Damit aber wollen sich die Autoren nicht zufrieden geben. Denn „Demokratie ist ein kostbares Gut. Generationen haben um und für sie gekämpft“. (7)
Die Autoren stellen sehr fair den Weg der Europäischen Einigung bis hin zum Vertrag von Lissabon dar und beschreiben ihn als Prozess, bei dem „den Bürgern sukzessive ihre Einflussmöglichkeiten genommen“ (39) wurden. Das kann nicht befriedigen. Der Lissabon-Vertrag ist nach Ansicht der Autoren nur auf den ersten Blick demokratischer als das bisherige System mit seinen intransparenten, unverständlichen Regelungen. Es ist inzwischen herrschende Meinung, dass auch der Lissabon-Vertrag „inhaltlich schwer verständlich“ ist. Zu Recht kommentieren die Autoren: „Wir halten mangelnde Verständlichkeit für einen zulässigen Grund, gegen eine Vorlage zu stimmen, denn Allgemeinverständlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung für die Demokratie“. (39) So sei schon „der Weg, der für die Reformierung und Ratifikation der Verträge eingeschlagen wurde, eine sukzessive Absage an die Demokratie“ (41) gewesen. Die positiven Aspekte der Reform reichten nicht aus, ein Ja der Brgerinnen und Bürger „als vernunftmäßig zwingend darzustellen“ (41) – im Gegenteil: „Im Ergebnis steht die EU nicht demokratischer, sondern weniger demokratisch da.“ (39)
Die Autoren belassen es aber nicht bei Kritik. Sie machen konkrete Vorschläge, wie aus ohnmächtigen Zuschauern der EU-Politik aktiv mitwirkende Bürger werden können – im Sinne des Grundsatzes, das alles Staatsgewalt auch in Europa vom Volke ausgeht.
Ein zentrales Element ist ein demokratischer Konvent für Vertragsreformen zukünftiger EU-Verträge (118-119). Dieser Konvent soll direkt gewählt werden. Außerdem soll der jeweils neue Vertragsentwurf in Referenden zu Abstimmung gestellt werden. Damit hätten die Bürger das letzte Wort. Dabei handelt es sich um „die Verlagerung der Kompetenzkompetenz von den Regierungen zu den Bürgern“ (119). Als positives Beispiel wird die Verfassungsreform des Schweizer Kantons Zürich 1999 bis 2006 angeführt. „Die Arbeit des Konvents müsste demokratisch gestaltet und sowohl für alle Mitglieder der Versammlung als auch nach außen transparent sein.“ (121)
Auch in der Frage der Zuständigkeiten haben die Autoren klare Vorschläge. Sie plädieren für ein föderales System, das diesen Namen verdient: „Aus unserer Sicht wäre es wichtig und sinnvoll, eine deutliche Dezentralisierung von Zuständigkeiten vorzunehmen und die Grenzen der EU klar zu definieren. So wäre ganz im Sinne des Subsidiaritätsgedankens sichergestellt, dass Kompetenzen immer von der kleinstmöglichen Einheit wahrgenommen werden, sodass auch innerstaatliche föderale Ebenen weiter ausreichende Befugnisse hätten“. (155)
Das ist vielleicht einer der wichtigsten Punkte überhaupt. Damit könnte die Identifikation mit der EU deutlich verbessert werden.
Die Autoren sind sehr kreativ. So wollen sie den Bürgern das Recht geben, europäische Gesetze selbst vorzuschlagen (Initiativrecht, 156) „und sie in einem Bürgerentscheid zu beschließen (Beschlussrecht)“. Außerdem hätten die Bürger ein Vetorecht gegenüber Gesetzen des Europäischen Parlaments und der Staatenkammer (Fakultatives Referendum), „zukünftige Änderungen des EU-Grundlagenvertrags würden sogar obligatorisch zum Volksentscheid gestellt“. (156)
Außerdem sollen die Richter des EuGH gewählt werden, um deren Unabhängigkeit zu stärken. Die Reformen gingen vor alle zu Lasten der Kommission. Die soll vom EP gewählt werden und vorwiegend Verwaltungsaufgaben wahrnehmen.
Alle Reformen stehen unter der Prämisse einer stärkeren Partizipation der Bürger, einer besseren Gewaltenteilung. Die Vision des Buches ist das demokratische Europa.
Die aktuelle Legitimationskrise der Europäischen Union zwingt dazu, die Frage nach einer demokratischen Reform Europas neu zu stellen. „Europa: nicht ohne uns!“ liefert substanzielle Beiträge für eine Demokratisierung und für eine stärkere Legitimierung des Projekts Europas, das im Sinne einer nachhaltigen europäischen Friedensordnung alternativlos ist. Das Buch ist als Diskussionsgrundlage uneingeschränkt zu empfehlen.

© Armin König 2009

Europäische Integration: Nah am Abgrund? Ein Kontinent schlingert

In Europa, Politikwissenschaft on April 18, 2009 at 10:27 pm

Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hrsg.)(2009): Jahrbuch der Europäischen Integration 2008. Baden-Baden: Nomos. 49 €.

Das Schiff Europa ist wieder einmal ins Schlingern geraten. Und das kräftig! Der Kurs ist unklar, die See wird rauer. Und das, obwohl zum Zeitpunkt der Endredaktion des Jahrbuchs der Europäischen Integration noch nicht mit einem Sturz der tschechischen Regierung während der EU-Ratspräsidentschaft zu rechnen war. Brisant genug war die Lage im letzten Jahr schon.
„Europa zeigt sich strategisch verwirrt“ (13) schreibt Werner Weidenfeld zu Beginn seiner „Bilanz der Europäischen Integration“. Kritisch notiert er: „Die übliche tagespolitische Hektik verbindet sich mit einer mittelfristigen Ratlosigkeit“ (13). Weidenfeld wird noch deutlicher: „So lange die Kernelemente des Lissabon-Vertrags nicht in Kraft treten, tickt die Zeitbombe einer Explosion der Legitimation Europas.“ (13) Eigentlich sollte der Reformvertrag Europa auf eine neue, demokratischere Grundlage stellen. Denn der noch gültige Vertrag von Nizza birgt Sprengstoff für Europa: „Die Bürger müssen nur bei einigen sensiblen Entscheidungen mitbekommen, welch eine dramatische Asymmetrie undemokratischer Art in den gewichteten Mehrheitsentscheidungen liegt.“ (13) So erleben wir derzeit eine paradox Situation. „Die intransparente Komplexität des Nizza-Vertrags hat bisher das Projekt Europa geschützt“, sagt Weidenfeld. „Man hat es nicht verstanden“. (13) Das muss aber nicht so bleiben. Deshalb warnt der Europa-Experte: “ Sobald die Unproportionalität aber einmal zum großen begreifbaren Thema befördert wird, dann ist die umfassendste Legitimationskrise nicht mehr abzuwenden.“ (13) Das Problem aber wird derzeit totgeschwiegen. Weidenfeld aber hat keine Scheu, zu unken, dass das Großprojekt der europäischen Erweiterung – bisher ein Magnet für viele Länder – plötzlich „nah an einem Abgrund“ steht.

Die Feststellung, dass es ernsthafte Probleme der Union gibt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge des traditionsreichen Jahrbuchs der Europäischen Integration. Dabei ist das gescheiterte Referendum in Irland nur ein Symptom für die Krise der Union. Vor „Lethargie und Handlungsstarre“ (52) warnen Giering / Neuhann mit Blick auf den Europäischen Rat. „Frust innerhalb der Parlamentsmehrheit“ (60) sieht Maurer bei den EP-Abgeordneten, die kämpferisch ins Jahr 2008 gestartet seien. „Gelassene Nervosität“ (69) konstatiert Diedrichs bei der Kommission. Unklar ist die Rolle der Agenturen, deren Zahl erheblich ausgeweitet wurde und denen es nach Ansicht Traguths an einem umfassenden Konzept fehlt (109). Auch die Außenpolitik der Europäischen Union und die Sicherheit- und Verteidigungspolitik sind von Unsicherheit gekennzeichnet (254). Hinzu kommen Schwierigkeiten mit Neumitgliedern wie Bulgarien sowie die unklare Perspektive der Beitrittskandidaten.

Trotz dieser Schwierigkeiten lässt das umfangreiche Jahrbuch auch zahlreiche positive Seiten der Europäischen Integration erkennen. Funktionierende Institutionen wie der Gerichtshof, der Rechnungshof und der Ausschuss der Regionen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie die Europäischen Zentralbank haben gezeigt, „dass der europäische Zusammenhalt entgegen vielfach geäußerten Befürchtungen nicht ausgedünnt wird und die EU-Zusammenarbeit auch ohne ein planmäßiges Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon in zentralen Bereichen voranschreitet“ (9). Vermutlich hätte Europa die Finanzkrise ohne diese funktionierenden Institutionen nicht in der bisherigen Form bewältigt. Dass es in Zukunft unterschiedliche Geschwindigkeiten der europäischen Politiken geben wird, gilt als wahrscheinlich – es ist ein Experiment mit offenem Ausgang.

Fazit: Das umfangreiche Jahrbuch der Europäischen Integration ist eine Fundgrube für Wissenschaftler, Studierende und Politiker, die sich ernsthaft mit dem Thema Europa auseinandersetzen. Es ist kritisch, bietet einen guten Überblick über Institutionen, Policies, Politics und Polities und ist sorgfältig editiert.

(c) Armin König 2009